Wer sich ernsthaft mit dem Gründervater Carl Röchling befassen will, der kommt um die biografische Schrift Richard Nutzingers nicht herum. Der Band erschien 1927, fast zwei Jahrzehnte und einen Weltkrieg nach dem Tod des großen Industriellen. Auch Gerhard Seibold, der zur Jahrtausendwende eine umfangreiche Monografie zum Werden und Gedeihen des Röchlingkonzerns vorlegte, hat Nutzinger intensiv studiert. Beide Werke verbindet eine weitere Besonderheit: sie sind im Auftrag der Familie Röchling entstanden. Das disqualifiziert sie keineswegs als nützliche Quelle, zumal Nutzinger, der seinerzeit als Privatlehrer im Saarbrücker Haushalt Carl Röchlings tätig war, sogar quasi aus erster Hand berichtet. Als unabhängigen Beitrag aus neuerer Zeit bietet sich Hans Jaeger an, sowie das stocknüchtern konzipierte, zweibändige Standardwerk zur saarländischen Gründerzeit von Ralf Banken. Letzterer macht als ausgewiesener Wirtschaftshistoriker alle Defizite Nutzingers in dieser Hinsicht wett, aber er ist natürlich nicht speziell an der Person Carl Röchlings interessiert.
Um Richard Nutzinger jenseits des tatsächlich Ausgesagten interessante Neuigkeitswerte abzuringen, muss man zuweilen mutig „zwischen“ den wohl abgewogenen Zeilen lesen. Schließlich sollte der Text dem Jubilar zur höheren Ehre gereichen und daher wurden offensichtliche Ecken und Kanten in der Persönlichkeit Carl Röchlings verbal ein wenig weichgespült.
Wie erwähnt ist Nutzinger kein Wirtschaftsfachman, er beschreibt was geschah und wann, aber selten, wie Carl es angestellt hat von mehreren möglichen Entscheidungen in der Regel die richtige zu wählen. So hat das Buch, welches im Auftrag der Söhne Louis und Hermann Röchling erschien, unbeabsichtigt dazu beigetragen, eine Reihe stereotyper Aussagen zu festigen, die dringend hinterfragt werden müssen. Um sogleich ein zentrales Missverständnis anzusprechen: Carl Röchling legte den „Grundstein“ zum Industrieimperium der Röchlings?
Tatsache ist, Carl Röchling, der europäische Kaufmann mit Firmensitz in Saarbrücken, erschuf den Konzern in allen seinen wesentlichen Bestandteilen. Er hinterließ bei seinem Tod keine Blaupausen oder Grundmauern sondern eine perfekt geölte Wertschöpfungsmaschine.
Ein typische Wortschöpfung Nutzingers ist auch die legendäre „Kohlenhandlung“, aus der der Konzern erwachsen sollte.
Richtig! – Doch Hand aufs Herz, wer denkt bei „Kohlenhandlung“ nicht an breite Schaufeln, hochrädrige Fuhrwerke, Muskeln, Schwielen und einen Haufen schmutzige Arbeit? Die „Kohlenhandlung“ in Saarbrücken war ein überregionaler Monopolbetrieb, der die gesamte Saarregion und mit ihr die aufstrebenden Wirtschaftszentren Lothringens mit dem begehrten Rohstoff belieferte.
Wer nun aber im Umkehrschluss glaubt, Carl Röchling sei mit „silbernem Löffel“ geboren, der sieht sich getäuscht. Das, was die vier Brüder Röchling und ihr Onkel Schmidtborn 1837 erbten, war ein Schatten einstiger Größe. „Wenige Monate des Übergangs“ genügten laut Nutzinger um das empfindliche Netzwerk aus Beziehungen, eingegangenen Lieferkontrakten und stabilen Absatzmärkten zu zerreißen. Die Firma „Gbr. Haldy“, ganz neu am Markt, war rasch entschlossen in die Bresche gesprungen. Kurz gesagt, das Geschäft war am Ende und eher ein Beispiel für die „Kontinuität im Wandel“, die sieben Jahrzehnte und noch einen Weltkrieg später G. Seibold postulieren sollte.
Während der folgenden sieben Jahre, in der Carl die Schulbank des Saarbrücker Ludwigsgymnasiums drückte, rettete Schmidtborn nicht nur die Firma, sondern erfand sie gleichsam neu. Kanäle und Eisenbahnen, die schöne neue Welt der fast unbegrenzten Transportmöglichkeiten erschlossen neue Absatzwege und ausgerechnet Kohle war, als typisches Massengut, dafür bestens geeignet. Ohne das Abitur abzuwarten ging es für Carl in die Lehre. Bezeichnenderweise nicht hinter einen muffigen Saarbrücker Tresen, sondern auf eine Art „Grand Tour“ durch Europas Wirtschaftszentren, Metz, Rotterdam, Le Havre. Ausgerechnet seine erste Lehrstelle bei Karcher in Metz bringt ihn in näheren Kontakt mit der faszinierendsten „Gelddruckmaschine“ des Jahrhunderts: Eisenherstellung. Eisen und Stahl, der kommende Werkstoff der Zukunft treibt ihn um und lässt ihn nie wieder los.
Kohle, Koks, Erz und Know How galt es mit den Transportmöglichkeiten der Zeit an einem idealen Ort zu konzentrieren – und das Beste zum Schluss: der Saarbrücker „Kohlenhandel“ sitzt dabei wie die Spinne im Netzwerk der Ressourcen. In der Folge saugt Carl europäisches Freihandelsbewusstsein ebenso in sich auf wie solide Kenntnisse der Kaufmannslehre. Mit Anfang 20 ist er ein Mann mit (bescheidenem) Vermögen, soliden Fähigkeiten und einer Vision. Die Revolution 1848 erwischt ihn kalt, jenseits der Realität der expandierenden Transportwege in Europa und nach Übersee existiert die Politik mit ihren hinderlichen nationalen Ressentiments, den Staatsgrenzen, Zöllen und Barrieren. Politik bedeutet aber auch Gestaltungsmöglichkeit, „Macht durch Produktion“. Die beiden zentralen Axiome seines Denkens stehen fest:
- Entwicklung vom reinen Rohstoffhandel zur Koks- und Stahlproduktion.
- Nutzung aller verfügbaren Transportmöglichkeiten zur Expansion.
„Nach meiner unumstößlichen Überzeugung bleibt aber auch an der Saar wahr, was in der ganzen Welt sich bisher als richtig erwiesen hat, daß der größte ökonomische Fortschritt unseres Jahrhunderts der großartigen Entwicklung aller zu Gebote stehenden Verkehrsmittel zu danken ist…“
Carl Röchling, in einer Denkschrift, Nutzinger S. 85
Der einjährig freiwillige Militärdienst war für vermögende Familien eine willkommene Möglichkeit der lästigen patriotischen Pflicht Genüge zu tun. Carl absolviert ihn standesgemäß bei den 9. Saarbrücker Husaren. Er muss zeitlebens, mit einer Beinaheausnahme, nicht mehr zur Waffe greifen. Die Welt hält auch so Abenteuer genug für ihn bereit. Seine Welt war ein komplexer Wirtschaftskrimi und er agierte darin genau so sicher wie mit dem „Queue“ an seinem geliebten Billardtisch. Die „Kugeln“ werden sorgfältig platziert und mit einem finalen Stoß eingelocht. Mitunter wird auch über Bande gespielt: Als im Rahmen des „Kohlenkonfliks“ mit den eifrig konkurrierenden Gbr. Haldy die Dinge aus dem Ruder zu laufen drohen, sorgt Carl nicht nur für eine Einigung, sondern schiebt eine kartellartige Kooperation der Häuser hinterher, in der sich die Preise nach Belieben diktieren lassen.
Haldy´s sollten sich noch mehrfach als nützlich erweisen, denn seine Vision hat Carl auch in den Niederungen des Tagesgeschäfts stets vor Augen. „Getrennt
marschieren und vereint zuschlagen“, General von Moltkes Erfolgskonzept der kommenden Einigungskriege hat Carl auf dem Terrain seines „Schlachtfeldes“ längst verinnerlicht. Wohl kaum ein Zufall, dass in beiden Wirkungsfeldern der Transport mit der Eisenbahn den Ausschlag gab.
1856 wandelt Carl, die eiskalte Rechenmaschine mit der bulligen Durchschlagskraft seiner Argumente, auf Freiersfüßen.
„Verbindlichkeit, war seine Stärke sicherlich nicht, dafür bedachtes Draufgängertum, gepaart mit einem hohen Grad an Durchsetzungsvermögen.“
Zitat seiner Mutter, Seibold S. 63
Die Auserkorene ist keine geringere als Alwine Vopelius, die begehrte saarländische „Glasprinzessin“. Die Quellen schweigen beharrlich, welche Mitbewerber
Carl mit welchen Methoden auszustechen hatte, aber an romantischen Anwandlungen darf bei Eheschließungen auf Konzernniveau beharrlich gezweifelt werden. Fakt ist, die beiden pfl egen, auch nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts, in jeder Hinsicht eine überaus fruchtbare Beziehung. Im Laufe der Jahre bringt Alwine 14 Kinder zur Welt, trägt die Hauptlast ihrer Aufzucht und Erziehung und kümmert sich leidenschaftlich um die sozialen Einrichtungen der expandierenden Firma. Wenn das geflügelte Wort von der „starken Frau hinter dem erfolgreichen Mann“ überhaupt zutrifft, dann hier. Alwine zieht nicht nur die kommende Generation von Managern, Technokraten und Hüttenbesitzern groß, sie und ihre Familie verfügen über unschätzbare Kontakte und Ressourcen. Solche Kontakte sind höchst nützlich, wenn man wie Carl durchaus frankophil eingestellt ist und Insiderinformationen aus den Pariser Ministerien benötigt. Eine bedeutende „Ressource“ waren zum Beispiel wesentliche Anteile an der Steinkohlengrube Hostenbach. Grube ist Grube, sollte man meinen, aber Hostenbach war die einzige bedeutende Anlage im Saarland, die unabhängig vom allmächtigen preußischen Bergfi skus arbeiten konnte – was für eine Pfründe! Dass sie zudem in Sichtweite Völklingens lag, ist, sagen wir mal: „Schwein gehabt“!
Grube Hostenbach vor 1900
Die „Carlshütte“ bei Thionville
Wenn also Carl der „Vater“ Völklingens ist, dann ist Alwine ganz gewiss die „Mutter“. Den eigenen Hausstand im Rücken setzt Carl nun den ganz großen Hebel an. Der erste Versuch, den soliden Onkel Schmidtborn von einer Beteiligung an der im Bau befi ndlichen Eisenhütte in Burbach zu überzeugen, war noch fehlgeschlagen, also müssen wieder die Haldys ran. In Altenwald wird gemeinsam Koks gekocht und in Pont-à-Mousson ist man schließlich tatsächlich an einer Eisenhütte beteiligt. Der entscheidende Sprung vom reinen Handelshaus zur Industrieproduktion war eingeleitet.
In den ersten Jahren nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 sieht sich Carl mit der Existenz eines deutschen Kaiserreichs konfrontiert, das Teile des lothringischen Hinterlands annektiert hatte, ohne dass er entscheidende Vorteile darin sehen konnte. Zugleich ist er mit dem Ausscheiden Schmidtborns mit 45 Lebensjahren endlich Herr seiner eigenen Unternehmung und bei weitem die zugkräftigste Lokomotive der Firma.
Mit zweifelnd geschürzten Lippen hatte er wohl in Völklingen, in „seinem“ Völklingen, eine unterkapitalisierte Eisenhütte, eigentlich eine bloße Schweißeisenproduktion mit angegliederter Weiterverarbeitung, den Betrieb aufnehmen gesehen. Prompt scheitert das Unternehmen. Im ganzen Land geschieht Ähnliches. Abenteuerliche Unternehmungen wachsen mit schnellen Krediten, gespeist vom französischen Gold der Kriegsreparationen aus dem Boden und verschwinden, unter Zurücklassung eben dieses, freilich verbrannten, Bodens. Die „Gründerzeitdepression“ geht um, aber sie kann einem ausgebufften Profi nicht wirklich gefährlich werden. Das „Saarbrücker Handelshaus“ ist bei aller Bescheidenheit im Auftreten längst eine breit angelegte „Holding“, die zugleich Rohstoffmarkt, Produktion und Absatzmärkte kontrolliert. Das Ludwigshafener Kontor verkauft mehr Eisenträger als Carl zu liefern vermag. Man produziert Koks aus eigener Steinkohle, fördert Erz, hat Beteiligungen in Lothringen und im Ruhrgebiet, und mehrere Gemeinden sind von Röchling´schen Gaswerken abhängig oder beziehen bereits die neumodische Elektrizität.
Die „Bühne“ ist dergestalt vorbereitet und jetzt lässt Carl die Falle zuschnappen, die ihn in die Spitzengruppe der Industriellenkaste katapultieren und in direkte Konfrontation zu Karl Friedrich Stumm treten lassen wird:
„Lieber Theodor, ich habe heute für 270.000 Mark die Völklinger Hütte gekauft…“
So beginnt die zentrale Inkunabel des Röchling Archivs, Carls Brief an seinen Bruder mit der lapidaren Vollzugsmeldung.
Wie es dazu kam?
Das allzeit nützliche Bankhaus Haldy hatte Kapitalien in Form von Hypotheken im gescheiterten Völklinger Eisenwerk angelegt. Um nicht am Ende leer auszugehen, erwarben sie die Brache aus der üppigen Liquidationsmasse für 200.000 Mark. Wenig Geld angesichts der runden Million, die bereits investiert worden war.
Süffisant könnte man anmerken, dass nach dem Ausstieg der Röchlings Ende der 1970er Jahre noch einmal eine runde Milliarde in Völklingen versenkt wurde, um den totwunden Leviathan am Leben zu halten. Nun, wer da glaubt, Carl Röchling hätte zu diesem entscheidenden Zeitpunkt des Jahres 1881 nicht längstens seine erfahrenen Finger im Spiel, der muss sich den Vorwurf der Naivität gefallen lassen. Die Völklinger Hütte wurde in einem Saarbrücker Gasthof zwangsversteigert und Haldy reichte das Paket postwendend an Röchling weiter. Wenn die 70.000 Mark, die Carl drauflegte „zufällig“ dem Kapital entsprechen sollten, das die Haldys „herauswirtschaften“ wollten – Voila! – aber das bleibt Spekulation.
Der entscheidende Punkt ist, Carl Röchling wusste mit dem Pfund zu wuchern, Haldy nicht. Was in den folgenden Jahren über Völklingen hereinbrechen sollte, ist unbeschreiblich. Das Völklinger Eisenwerk stand buchstäblich auf der Kohle und der gewonnene Stahl regierte die Welt.