„Alles still, alles tot“ titelt ein Artikel der „Zeit“ vom März 1985 und zitiert damit den örtlichen Pressereferenten: „Die Kneipen wo das Bier bei Schichtwechsel vom Lastwagen floß – alles still, alles tot“. Im „Rippches Eck“, kostete das Bier damals 1,20 Mark aber das legendäre Schanklokal gleich am Bahnhof war gähnend leer. Das Sterben des einstmals quirligen Kneipenquartiers hatte schon Jahre zuvor mit der Umsetzung der ersten Sozialpläne begonnen, in stillschweigender Scham überließen die entlassenen Kollegen ihre Stammplätze an den Tresen den verbliebenen Männern in Lohn und Brot.

Als in den 70er`n der Bau der Südtangente das empfindliche städtebauliche „Bindegewebe“ am Übergang von Stadtareal und Hüttenquartier wie eine Riesensichel aus Beton durchtrennte, war das Schicksal des ungeliebten Völklinger „Kiez“ faktisch besiegelt. Das deftige aber respektable Quartier wirkte auf den Betrachter bereits wie im Todeskampf. Abgeschlagene Balkone und zugemauerte Portale, die vom rieselnden Sinterstaub verfärbten Fassaden wirken nicht länger stolz „patiniert“, sondern schlicht heruntergekommen. Es schloss sich ein 100jähriger Kreislauf wechselseitiger Abhängigkeiten.

Der eisenschaffende „Organismus“ der Hütte, ein Mensch und Materie ebenso ansaugendes- wie ausspuckendes Monstrum, hatte sich um die Jahrhundertwende, vor den Werkstoren ein gleichsam pumpendes „Organ“ erschaffen, irgendwo zwischen Herz und Lunge der lebendigen Menschen angesiedelt, die rhythmisch durch die Werkstore hinein- und herausströmten. Der „Schichtwechsel“, ein eiserner Taktstock, der eigentlich das Leben der Hüttenfamilien strukturieren sollte, versorgte auch das zugehörige Kneipenquartier wie ein seltsames, steht´s dienstbereites Organ mit „Leben“, will sagen mit Menschen und Moneten. Die Hütte spülte Kaufkraft in die Wilhelmstraße (heute Rathausstraße).

Hinter den adretten, eben wilhelminischen Prachtfassaden pulste eine Arterie des Wohlstands, die allerlei, zumeist unschuldige Genüsse bereithielt. Sie schien in das Herz der Wohnstadt zu führen, niemand wollte wahrhaben, das s i e das eigentliche, das schlagende „Herz“ Völklingens war, denn Verwaltung und nachgeordnete Wohnquartiere ergeben kein funktionierendes Ganzes.

Ein wenig Kiez, ein wenig Vampir, aber überwiegend ein geradezu gutbürgerlich anmutendes Ambiente, bildeten Hütte und Kneipenquartier ein siamesisches Zwillingspärchen, dem freilich auch die Tragik einer solchen Verbindung innewohnte. In dem Maße wie dem Monstrum die Kräfte schwanden, erstickte die, nach der Mitte der 70er Jahre in rund zehnjähriger Agonie dahinsiechende Hütte, folgerichtig das Leben ihres „Zwillings“. Der dreckige, bescheidene, fröhlich–fette Wohlstand mit seiner einzigartigen Infrastruktur von Kneipen, Bedarfsartikeln und Luxusgütern wich einem Milieu von Spelunken und „Ramschläden“. In den heruntergekommenen Fassaden der Gründerzeit ersetzten düstere Durchschlupfe roh vermauerte einstmalige Prachtportale, die in ihren besseren Zeiten ungezählte durstige Männer in Filzhut und Gabardinemänteln vor dem rieselnden Sinterstaub der Straße schützten und ein schnelles Bier offerierten, bevor die wartenden Busse vorfuhren.

„Rippches Eck“, erste Anlaufstelle am Torhaus 6. Eine Zeitreise in Sachen Fassadengestaltung. Fensterbrüstungen und Sandsteinornamente fallen dem Zahn der Zeit zum Opfer, die „Denkmalwürdigkeit“ der Lokalität leider auch…

Als das Eisenwerk starb, konzentrierte sich das gesamte Interesse der sensibilisierten Kultureliten auf den Erhalt des toten Walgerippes, eindrucksvoll genug und ein knappes Jahrzehnt später sogar Weltkulturerbe.

Doch die Meiler waren noch nicht erkaltet, als bereits Bagger anrückten um der ungeliebten Geisterstadt vor den Werkstoren den Garaus zu machen. Durchaus mit leiser Wehmut aber volltönend Aufbruchsstimmung verbreitend, geriet ein bürokratisches Räderwerk in Bewegung und zugleich außer Kontrolle, das über hundert Jahre die Balance zwischen berechtigtem Einnahmewunsch der Gemeinde und moralischer Anstandsverpflichtung bewahrt hatte.

Der gemeinsame Kampf, den Hüttenleitung und Stadtverwaltung dem Übermaß des Alkoholkonsums angesagt hatten, erlebte ein Finale wie ein Ausrufezeichen! Bereits zum zweiten Mal, nachdem 1866 der Eisenbahnbau die Gemeinde Völklingen der Länge nach durchschnitten hatte und den eigentlichen Ortskern hinter dem Bahndamm verkümmern ließ, amputierte die Stadt unter allgemeinem Beifall ein vermeintlich nekrotisches Organ und riss sich damit buchstäblich das Herz heraus.