Die „Gründerzeit“ ist zugleich Mythos wie grundoptimistisches Konzept, beides prägte einen, nicht näher zu definierenden Zeitraum zwischen 1815 und 1880 nachhaltig. Die sich unmittelbar anschließende „Belle Èpoque“ war in ihrem vermeintlichen Überfluss in der Tat ein Zeitalter, das erst einmal „begründet“ werden musste. Die Radikalität, mit der sich die Epoche von allen vorhergehenden Zeitaltern unterscheidet muss Erstaunen auslösen. Die Realität der historischen Gründerzeit ist heute vielfach verklärt, missverstanden und unter dem überwältigenden Eindruck der Verwerfungen zweier Weltkriege nahezu unkenntlich geworden, dabei ist sie nichts weniger als die „Wiege der Moderne“. Nahezu alles, was unser heutiges Leben ausmacht wurzelt in ihr oder wurde durch diesen historischen „Katalysator“ erheblich verändert.
Eben diese Gründerzeit entspricht den wichtigsten und aktivsten Lebensjahren des Handelsherrn und Industriepatriarchen Carl Röchling (1827 – 1910), der sie für unsere Region wie kaum ein zweiter prägte.
Der Historiker Ralf Banken teilt den fraglichen Zeitabschnitt für die Saarregion in eine Phase der „Frühindustrialisierung“ (1815 – 1850) und eine „Take-Off und Hochtechnologiephase“ (1850 – 1914) ein. Und auch dafür könnte exemplarisch unser Protagonist stehen. Die Lebensleistung Carl Röchlings ist schlichtweg erstaunlich und sie ist nur vor dem Hintergrund des brodelnden wirtschaftspolitischen Experimentierfelds des damaligen Europa einigermaßen nachvollziehbar. Die aufstrebenden Kolonialmächte und das ihnen nachstrebende Deutsche Reich, machten sich die globalen Ressourcen rücksichtslos zu Nutze, um eine, nur wenige Jahrzehnte währende europäische Blütezeit zu erschaffen, deren Auswirkungen wir gleichwohl heute noch spüren. Die „Blüte“ ging einher mit vollkommen beispiellosen Wertschöpfungen, die unter anderem der ersten Garde ihrer „Macher“ durch pure Wirtschaftskraft die faktische Ablösung überkommener gesellschaftlicher Eliten ermöglichte. Technische Revolutionen führten zu einer Umwälzung des Transport- und Kommunikationswesens und veränderten damit tiefgehend die Lebensumstände der Bevölkerung. Nicht immer zum Vorteil der Betroffenen. Die Bevölkerungsexplosion der Städte vollzog sich mit bislang ungekannten sozialen Härten. Selbst in der Blütezeit des späteren Kaiserreichs starben jährlich allein über 100.000 Menschen an Kälte und Unterernährung. Gründerzeit und Belle Èpoque, die in mancherlei Hinsicht gar nicht so „belle“ war, entpuppten sich schließlich als ein Zeitalter der offenen Widersprüche.
Die in der Geschichte einmalige Möglichkeit Architektur flächendeckend „materialecht“ auszuführen, trug zu einem bombastischen Eklektizismus bei, an dem sich in kostbarem, behauenem Naturstein bis heute unmittelbar ablesen lässt, wie das Zeitalter „tickte“. Die Entwicklung Carl Röchlings vom Teilhaber eines prosperierenden regionalen Rohstoffhandels zum führenden Kopf eines Hochtechnologiekonzerns, der bis in die Gegenwart existiert, nutzte die Möglichkeiten der Zeit (und zwar alle) setzte aber eine eigentümliche Mischung aus kalkulierter Risikobereitschaft und zäher Bodenständigkeit voraus, die speziell ihm eigen war. Seine Ausbildung umfasste das klassische Handwerkszeug des Kaufmanns, erworben vor Ort in verschiedenen europäischen Städten und wechselnden Wirkungsfeldern. Das die Grundschwingung seines Handelns die eines alle Widerstände überwindenden Optimismus war, ist zu gleichen Teilen seiner persönlichen Veranlagung und den Grunddispositionen des Zeitalters geschuldet, in dem er das Glück hatte zu leben. Sein Ehrgeiz, sein visionärer Geist und seine geradezu skrupellose Durchsetzungsfähigkeit passten in eine Zeit, die buchstäblich keine Limits nach oben kannte und zugleich in einer überkommenen Gesellschaftsordnung fußte. Tatsächlich waren lediglich die Eliten ausgewechselt worden, wohlfahrtsstaatliches Bewusstsein, Fürsorge, und allgemeine Bildung der Bevölkerung steckte in den Kinderschuhen.
Die diesen Mann befähigenden und antreibenden Eigenschaften kamen in einem denkbar günstigen Umfeld zum tragen. Die Welt des Carl Röchling war, mit bezeichnender Ausnahme der deutschen Einigungskriege, unbeeinflusst von Katastrophen, militärischer, wirtschaftlicher oder sozialer Natur, die die europäische Folgezeit, insbesondere in der grenznahen Saarregion, bis 1945 so nachhaltig prägte.
Durchaus vergleichbare persönliche Eigenschaften und Talente konnten in der Folgegeneration, unter eben diesen veränderten Voraussetzungen, zu fehlgeleiteten und in der Rückschau nachgerade katastrophalen Folgen führen. Dieses latente Risiko blieb Carl Röchling zeitlebens erspart. Die Welt, die er 1910 verließ, zeigte, aus europäischer Sicht, alle Anzeichen einer gesunden, dauerhaften Prosperität. Das die vorgeblich stabile politische Architektur im unheilvollen Zusammenspiel mit relativem gesellschaftspolitischem Stillstand der Jahre vor 1914 alle Agenzien zur Entfesselung des ersten vollindustrialisierten, globalen Konflikts in sich trug, konnte ihm nicht bewusst sein.