Wenn man vor dem wilhelminischen Bahnhof der Gründerepoche stand, dessen quietschgelbe Klinkerfassaden mit der Zeit das Braungrau der Hüttenschlote derart adaptierten, dass man den Anbau der 50er Jahre guten Gewissens in rotbraunem Ziegelmauerwerk ausführen konnte, ohne dass der Unterschied groß auffiel, schweifte der Blick über eine belebte Straße mit Resten der „Kaiser Wilhelm Pflasterung“ aus stumpfgrauen Schlackensteinen der Hütte. Hier läuteten einst die schmucken Trambahnen mit Oberleitung zur Abfahrt ihre Glocken, während nun die neumodischen, für unsere Augen gleichwohl altertümlich anmutenden Omnibusse quäkend hupen, um die letzten Nachzügler zur Eile anzutreiben. Auf den Gleisen hinter uns übertönt ein gellender Lokpfiff die Szenerie, gefolgt von den dumpfen Kolbenschlägen und kurz durchdrehenden Rädern einer überforderten Dampfmaschine, der Arbeiterzug ist vollbesetzt.
14:30 Uhr im Frühjahr 1968. Der Schichtwechsel ist vorbei, das kontinuierliche Rumoren und Quietschen der Eisenhütte schiebt sich wieder in den Vordergrund, Läden schlagen zu und erschöpfte Kellner gönnen sich endlich eine Zigarette. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, steigt das Gelände überraschend steil an, eine repräsentative, zweiläufige Freitreppe führt hinauf zum Torhaus 6, dem Hauptumschlagplatz für Pendler in Völklingen. Vor einer knappen halben Stunde war die Treppe buchstäblich schwarz vor Menschen.
Nach rechts verlängert sich das Bahnhofsgebäude mit einer seltsam neumodischen, gläsernen Budengasse und einem kuriosen, von Zinnen bekrönten Turm, dessen weißer Anstrich längst abgeblättert ist. Hier öffnet sich die Stadt mit der Rathausstraße wie ein Trichterschlund, man sieht noch Gruppen von Völklinger Arbeitern die Bürgersteige Richtung Innenstadt entlang streben, wenn sie nicht rechts und links einen Abstecher in ihre Lieblingslokale riskieren.
Dieses architektonische Aushängeschild der Stadt gibt sich gründerzeitlich mondän und wird daher gerne abgelichtet. Den linken Eckpfeiler bildet das Schanklokal „Rippches Eck“, das ehemalige Hotel Restaurant Müller. Zwei Eckrisalite, spitze Giebel, Mansarddächer, Rundbogenfenster und natürlich Klinkersteine und Sandsteinornamente. Daneben die abknickende Doppelfassade des „Hotel Gapp“. 1968 ist der Hotelbetrieb längst reine Nebensache. Das „Gapp“ hat als Stehbierhalle um die Jahrhundertwende begonnen und es endet auch als einfache Kneipe mit ein wenig Halbwelt in den Hinterzimmern. Als einzige der bekannten Lokalitäten behält das „Gapp“ seinen Namen von der Jahrhundertwende bis zum bitteren Ende 1986 bei.
Unmittelbar anschließend und ebenso legendär, der Lötkolben, richtiger „LÖTKOLWE“, ein Szenelokal, in dem es auch schon mal etwas rauher zugehen konnte. Den Abschluss bildete das langgestreckte Gebäude des „Volkscafés“ nebenan. Dahinter ragt, vom Bahnhofvorplatz aus kaum sichtbar, das klotzige Gebäude des Knappschaftskrankenhauses auf. In seinen Fassaden sind noch die Einschusslöcher der französischen Kanonenkugeln von 1870 zu sehen. Völklingens ehedem attraktivstes und bei weitem größtes Gebäude steht 1968 kurz vor dem Abriss.
In die parkähnliche Umgebung des Krankenhauses wird in wenigen Jahren die geplante Hochstraße einbrechen, der auch Teile der rechten Randbebauung der Rathausstraße und das Haupttor der Hütte zum Opfer fallen werden. Vom Bahnhof aus betrachtet, eröffnet, sozusagen am rechten „Trichterrand“ die extrem schmale Querfassade des „Rheinischen Hofs“ den illustren Reigen der Etablissements, die sich hier, Fassade an Fassade bis auf die Höhe des „alten“ Rathauses drängen.
Der Rheinische Hof ist Schankstube, Hotel und Billardcafe zugleich. Diese Völklinger Version des berühmten New Yorker „Flat Iron Buildings“, ist mit seinem dreieckigen Grundriss, den Rustikaquadern und großzügigen Rundbogenfenstern unverkennbar. Die Rückfassade zum steil abfallenden Bahngelände nimmt sich dagegen mit hohen schmucklosen Brandmauern wie eine skurrile Ritterburg aus.
1968 ist von der einstigen Pracht der vorderen Fassaden nicht mehr viel zu erahnen. Gähnende, ungeteilte Glasscheiben, wo kleinteiliges Sprossenwerk gefühlte Antiquiertheit – aber auch Stil – vermittelt hatte, abgeschlagene Fenstergewände und Ornamente zeugen von zwanghafter „Modernität“, bunte Reklametafeln vom häufigen Besitzerwechsel. Dem mondänen Hotel „Malepartus“, direkt im Anschluss erging es nicht besser. Was als gehobene Herberge auch für entsprechend anspruchsvolle Gäste der Hüttenleitung begann, sollte als „Carmencita Bar“ und triste Absteige enden. Auf der rechten Straßenseite ging es Schlag auf Schlag weiter. Das „Schmale Hemd“, später auch „D-Zug“ genannt, war ein beliebtes, gleichwohl nur zweieinhalb Meter breites Lokal, und teilte sich mit der „Landeskrone“ das Gebäude Nr. 45 Rathausstraße. Café´s mit Schankwirtschaft, eine Völklinger Spezialität, aber auch Zoogeschäfte und Herrenausstatter rundeten das Angebot ab.
Etwa 90 (!) weitere „Verkaufsstellen geistiger Getränke“ wurden in den Unterlagen der Stadt seit der Zeit um 1900 sorgsam gelistet und in ihren Aktivitäten überwacht. Wer da nicht alles mitverdienen möchte! Die erwähnten Konditoren, die Likör und Brandwein feilbieten wollten, Animierbetriebe und auch halbweltliche Spelunken. Weitaus prägender aber waren die gutbürgerlichen Geschäfte mit Kleidung, Kolonialwaren, Luxusgütern und Dienstleistungen aller Art. Die Hüttenleitung im Schulterschluss mit der Stadtverwaltung versuchte von je her die Zügel in der Hand zu behalten. Während Hans Großwendt als Baumeister der Hütte und Chefplaner der Arbeiterbaugenossenschaft sich auch als Vorsitzender der Vereinigung der Alkoholgegner hervortat, mischte sich in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg der bereits omnipräsente Hermann Röchling aktiv in laufende Genehmigungsverfahren ein, um zu verhindern, dass die Kneipendichte zum echten Problem avancierte.