…in diesen Worten liegt Faszination und Unbehagen zugleich. Der Mythos des Schichtwechsels hat mit Bierkonsum, mit Ausschweifungen mit formidablen Verdienstspannen und „Alkoholleichen“ zu tun. Selbst auf die Gefahr, dem Thema einen nicht unwesentlichen Teil seiner Aura zu nehmen, bleibt festzuhalten, dass das Wenigste tatsächlich zutraf. „Schichtwechsel“ ist keine Veranstaltung aus der kreativen Feder einer Kommunikationsabteilung, sondern schlichte Notwendigkeit, um eine Komplexe Maschinerie rund um die Uhr, Tag und Nacht, mit chronisch unzulänglichen Menschen zu bedienen, die nach acht anstrengenden Stunden beginnen Fehler zu machen. Der reibungslose Wechsel an Werkbank, Regler und Schalttafel setzt ein funktionierendes Ritual voraus, dem sich alle Beteiligten bedingungslos unterwerfen.
„100 durstige Hochwäldler“ sind ohne Frage ein schlagkräftiges Argument und man tat sicher gut daran, ihnen nicht auf der Anflugschneise zum Tresen im Weg zu stehen. Aber wenn sie ohne ein solches Hindernis auf die Theke ihrer Stammkneipe „losgelassen“ wurden, hätte man überrascht feststellen können, dass weder Chaos noch Stampede ausbrachen, sondern sich alle Beteiligten konzentriert und notgedrungen koordiniert dem Konsum einer überschaubaren Anzahl von Bieren widmeten.
Es gab keine Zeit zu verlieren, Bahn und Busse warteten nicht, aber sie waren immerhin so getaktet, dass das Bier zum Schichtwechsel zu seinem Recht, der nötigste Klatsch ausgetauscht und sogar eine Frikadelle, ein Solei oder ein „Krokodil“ hastig verspeist werden konnten. Für den Wirt und seine Crew war Tempo und Koordination alles.
Also alles Mythos oder was? Mitnichten, das Legendäre am Schichtwechsel war nicht der einmalige Exzess, sondern gerade die immer wiederkehrende Konstanz, drei Mal täglich um 6 Uhr in der Früh, um 2 Uhr am Nachmittag und um 22 Uhr in der Nacht. Und „100 durstige Hochwälder“ putzen was weg, 200 bis 300 Gläser Bier, eine angemessene Menge Schnaps, Friko, Hähnchen, Rostwurst etc. Das Ganze dreimal täglich in einer wechselnden Anzahl Lokalitäten, deren wichtigste Vertreter unbedingten Kultstatus genossen. 150 Hektoliter Bier pro Monat war für die „ersten Häuser am Platz“ absolut normal.
Die Schichtwechsler selbst unterschieden sich in feinen Rangstufen, ein (Stamm)Platz am Tresen wollte verdient sein, das „Ritual“ selbst musste in seinen feinen Verästelungen erst einmal erlernt und schließlich korrekt vollzogen werden. Wer sich wohin orientierte, hatte weniger etwas mit der angebotenen Biersorte zu tun – es waren derer viele – als vielmehr mit Destination und Verkehrsmittel. Wer mit der Eisenbahn fahren wollte, orientierte sich zum Bahnhof und seinem Umfeld, Trambahn und Busse konzentrierten ihr Klientel in jeweils spezifischen Lokalen. Sobald der Zeitpunkt der Abfahrt herannahte, setzten sich die Männer en bloc in Bewegung und die jeweilige Kneipe kehrte entweder zum Normalbetrieb zurück oder schloß sogar die Pforten bis zum nächsten, absolut vorhersehbaren Ansturm.
Der Mythos der Hunderte von vorgezapften Bierchen war also real, nichts konnte unpassender sein, als dass ein unbedarfter Gast, kurz vor Ertönen der Schichtwechselsirene, ein Völklinger Lokal in Bahnhofsnähe aufgesucht hätte, um etwa ein Getränk zu ordern. Man wurde schlichtweg ignoriert! Mit emsiger Präzision wurden Massen von gefüllten Biergläsern auf dem ausladenden Tresen bereitgestellt, andernorts waren auch Bierfl aschen – mitunter im Kasten – so auf kleinen Tischen platziert, dass dem Ansturm fl exibel begegnet werden konnte. Beim ablösenden Schichtwechsel begegnen sich immer zwei Gruppen. Die Neulinge strömen ins Werk und genehmigen sich vorher noch „eins auf den Weg“. Alkohol ganz gleich in welchen Behältnissen war innerhalb der Werkstore selbstverständlich verboten, mit einer Ausnahme, wenn man selbst das „Behältnis“ war. Die abgelöste Schicht bewegte sich müde in die Waschkauen und erschien nach einem genau abgezirkeltem Zeitfenster am jeweiligen Torhaus, das vom gestrengen Werksschutz gehütet wurde, dann erst ging´s gemeinschaftlich in die Kneipe.